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Was ist eigentlich die Ursache von Essstörungen? Das werde ich von Betroffenen, Eltern und Fachleuten aus dem Gesundheitswesen oft gefragt.
Was denken Sie denn, was die Ursachen sein könnten“ frage ich dann zurück. Und meistens bekomme ich eine von zwei Antworten.
Antwort A: „Hmm….. ich weiss es nicht. Ich habe keine Ahnung“.
Antwort B: „Das Schönheitsideal und der Schlankheitswahn.“
Doch es gibt weit mehr mögliche Auslöser.
Physische Hintergründe
Da gibt es zum einen körperliche Faktoren die für ein durcheinandergeratenes Essverhalten, Nahrungsverweigerung, Erbrechen und Essattacken verantwortlich sein können. Denkbar sind Schilddrüsenprobleme oder Nährstoffmangel.
Es macht Sinn möglichst rasch mit einem Arzt zu klären, ob dies Gründe sein können.
Einige Zeit sprach man auch von der Set-Point-Theorie, die besagt, dass der Körper sich auf einem bestimmten Körpergewicht einzupendeln versucht. So erkläre sich auch der Jojo-Effekt, den fast alle Diäthaltenden kennen. Ob es stimmt? Wissenschaftlich liess es sich bisher nicht klar belegen.
Hypothetische Auslöser für Esssucht
Das Schlankheitsideal
Oft wird behauptet, das Schlankheitsideal sei eine wichtige Ursache. Das ist nicht belegbar, aber natürlich auch nicht von der Hand zu weisen. Tatsächlich haben viele Menschen das Gefühl sie müssten diesem Ideal entsprechen und beginnen deshalb an ihrem Erscheinungsbild „zu arbeiten“. Mit Diäthalten und Sporttreiben beispielsweise.
Diese Massnahmen – insbesondere das Diäthalten – lösen Gefühle des Mangels aus. Diese können tatsächlich zu den ersten Essattacken führen oder zum Versuch nach dem Essen zu Erbrechen.
Der Auslöser ist also nicht das Schlankheitsideal an sich, sondern, dass die Betroffene sind anfällig für die Versprechen der Diäten, weil sie den Druck aufnehmen einem bestimmten Ideal entsprechen zu müssen. Das regelmässige Diäthalten ist es dann, das die Probleme mit dem Essen auslöst (siehe unten).
Der Überfluss
Tatsächlich gibt es nur da Essstörungen, wie sie im ICD10 oder DSM V definiert werden, wo Nahrungsmittel fast unbegrenzt zur Verfügung stehen.
Essattacken und übermässiges Essen, wie bei der Binge eating Störung sind in armen Ländern schon deshalb nicht möglich, weil gar nicht so viel Essen zur Verfügung steht.
Misslungene Prävention
Neben allen positiven Auswirkungen, kann die Aufklärung über Essstörungen auch einen negativen Effekt haben. Gerade bei der Magersucht und beim Erbrechen ist beobachtbar, dass junge Menschen via Fernsehen, Internet und Illustrierte dazu inspiriert werden diese Verhaltensweisen auszuprobieren. Das kann nicht von der Hand gewiesen werden.
Missfallendes Rollenverständnis
Die bekannte Psychotherapeutin und Autorin Bärbel Wardetzki schreibt, sie höre von vielen Frauen, die von Essstörungen betroffen sind, dass sie das Frausein abschreckend finden:
Aus „Iss doch endlich mal normal“, S. 155
Meine Beobachtung ist, dass Frauen bis heute lernen sich um andere mehr zu kümmern als um sich selbst. Sie lernen anderen zuliebe auf die eigenen Bedürfnisse und Weiterentwicklung zu verzichten und ein Leben zu akzeptieren, das sie in Wirklichkeit gar nicht mögen.
Wissenschaftlich belegbare Auslöser
Tatsächlich erforschen und belegen konnte die Wissenschaft bis heute 3 Auslöser:
1. Umbruchs- und Trennungssituationen
In der Beratung entdeckt man immer wieder, dass der Ausbruch einer Essstörung mit äusseren Veränderungen zusammenfällt. Zum Beispiel mit dem Ende der Schulzeit, mit einem Wechsel ins Internat, mit dem Einstieg ins Berufsleben oder mit dem Auszug der Kinder.
2. Hänseleien und Ablehnung
Auffällig oft berichten von Essstörungen Betroffene von tiefen Verletzungen, die sie erlebt haben, weil sie wegen ihrem Gewicht oder Aussehen gehänselt, kritisiert oder abgewertet wurden.
Manche erzählen auch, dass sie von Bezugspersonen davor „gewarnt“ wurden, sie könnten zunehmen.
Schaut man sich Kinderfotos an, zeigt sich oft, dass ein Kind eine Phase lang etwas pumelig war oder aus anderen Gründen nicht dem Ideal entsprach.
3. Diätkarriere
Es überrascht meine Zuhörer und Leser immer wieder, wenn ich sage: „Beginne eine Diät und du beginnst eine Essstörung“.
Doch tatsächlich ist das Diäthalten eine der wichtigsten Ursachen für Essstörungen. Untersuchungen legen nahe, dass der fortwährende Versuch abzunehmen und das Gewicht künstlich niedrig zu halten dazu führt, dass nach ca 19,2 Monaten des Diäthaltens die Kontrolle über das Essverhalten immer mehr verloren geht und die ersten Essattacken auftreten.
Bulimie, Eine Behandlungsanleitung für Therapeuten und Betroffene, S. 36
Angesichts dieser klaren Erkenntnis, ist es verstörend, mit welcher Selbstverständlichkeit das Diäthalten als Mittel zum Wohlbefinden propagiert wird.
Das Experiment: Männer auf Diät – das Essen als Sucht beginnt
Den Zusammenhang zwischen Hungern und einem gestörten Essverhalten zeigte schon 1950 die berühmte Minesota-Studie. Dabei erhielten freiwillige, gesunde Männer über einen Zeitraum von 6 Monaten nur 50% der gewohnten Essensmenge.
Die Studienteilnehmer nahmen durchschnittlich 25% ihres Ausgangsgewichtes ab, jedoch waren die Konsequenzen zum Teil gravierend. Die Forsche sprachen von einer „Unterernährungsneurose“:
Emotionale Veränderungen
- Freudlosigkeit
- Stimmungsschwankungen
- Reizbarkeit
- Nervosität
- Angst
- Interesselosigkeit, Antriebslosigkeit
Soziale Veränderungen
-
sozialer Rückzug, Isolation
Kognitive Veränderungen
- Konzentrationsstörungen
- Verminderte Aufmerksamkeitsleistung
- Reduzierte Entscheidungsfreudigkeit
- Verminderte Urteilsfähigkeit
Körperliche Veränderungen
- Müdigkeit, Schwächegefühl
- Nierdriger Blutdruck
- Magen-, Darmbeschwerden
- Niedrige Körpertemperatur
- Reduktion des Grundumsatzes
Veränderung im Essverhalten
Doch der in unserem Zusammenhang spannende Punkt ist der folgende: diese jungen, gesunden Männer entwickelten plötzlich Symptome, die typisch sind für Bulimikerinnen, Magersüchtige und Esssüchtige:
- Störungen des Sättigungsgefühls
- Starke Hungergefühle selbst nach grossen Mahlzeiten
- Beginn von Heisshungerattacken und Essanfällen
- Erhöhtes Interesse an Speiseplänen
- Erhöhter Bedarf an Kaffee und Gewürzen
Beobachtungen von Fachleuten
Wer – wie ich – über Jahre Betroffene betreut, entdeckt Zusammenhänge, die zwar nicht wissenschaftlich belegbar, aber doch aufschlussreich sind. Die therapeutische/beraterische Praxis zeigt, dass das innere und äussere Faktoren zusammenspielen:
Risikofaktoren für die Entstehung von Esstörungen
Innere Faktoren
- Perfektionismus (=rigoroses verfolgen des Schlankheitsideals)
- Mangelndes Selbstwertgefühl
- Aussehen steht im Vordergrund, vor Persönlichkeit
- Ständige Unterdrückung agressiver Impulse
- Negieren von negativen Gefühlen
Verhaltensmuster
- Fehlende Essrituale
- Strenge Essenskontrolle
- Längerfristige Nahrungseinschränkung
Äussere Faktoren
- Umbruchsitutation wie Trennung oder Pubertät
- Krankhafte Schönheitsideale (Medien)
- Diätangebote
- Wenig Anerkennung und Aufmerksamkeit
- Aussehen steht im Vordergrund, vor Persönlichkeit
- Diätverhalten der Eltern
- Starre und überkommene Geschlechterrollen
- Leistungs- und Anpassungsdruck
Ursache „Emotionaler Missbrauch“
Im Zusammenhang mit Magersucht berichten Fachleute auch oft, dass ihre Klientinnen Opfer von sexuellem Missbrauch sind. Ich habe in meiner eignen Biografie entdeckt, dass hinter dem mangelnden Selbstbewusstsein und der Empfänglichkeit für idealistische und perfektionistische Ansprüche ein starkes Misshandlungsmuster in meiner Kindheit und Jugend lag, emotionaler Missbrauch.
Klar, dass ich mit meinen Klientinnen ebenfalls über diese Erziehungsmuster sprach. Dabei zeigte sich auffällig oft, dass die Frauen, die mich wegen Essstörungen aufsuchten, insbesondere Bulimikerinnen, starke Misshandlung erlebt hatten. Nur in Ausnahmefällen war ihnen bewusst, dass sie dadurch stark verletzt worden waren und es ihnen schwer fiel, für Wohlbefinden in ihrem Leben zu sorgen. Zu sehr waren sie darauf fokussiert, was ihre Pflichten und die Erwartungen anderer sind.
Gelang es ihnen sich aus diesen beengenden Mustern zu befreien und den inneren Schmerz aufzuarbeiten, entdeckten sie ein neues Lebensgefühl. Dabei ordnete sich nach und nach auch das durcheinandergeratene Essverhalten.
Fazit
Wissenschaftlich untermauert sind die Faktoren
- Umbruchsituationen
- Hänselei und
- Diätkarriere
Alle anderen Ursachen konnten bisher nicht belegt werden – vielleicht wird es auch nie möglich sein.
Für die Praxis ist es relevant, zu wissen, dass langdauernde Phasen von Diäthalten einer der grössten Risikofaktoren ist und auch entsprechende Therapiemassnahmen einzusetzen (siehe Übungen zum WorkBook)
Warum sich bei einer Person ausgerechnet das (Nicht-)Essen als Sucht entwickelt ist unklar. Dies dürfte innerpsychische Gründe haben und gleichzeitig auch mit äusseren Umständen zusammenhängen.
Hallo liebe Leserin
dank der Anti-Diät-Bewegung konnte ich schon früh den Kampf mit meinem Gewicht und Essattacken beenden.
Was ich gelernt habe, teilte ich viele Jahre mit meinen Klientinnen. Es zeigte sich, dass auch für sie das Gelernte zu einer tiefgreifenden Verbesserung führt.
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